Eine Mutter-Tochter-Dynastie macht Bayern beinahe zur Modemetropole 

Grafik: Das ist keine Kriminalität. Das ist Leidenschaft.

Ich sage es, wie es ist – und ich sage es besser als alle anderen: Das ist keine Kriminalität. Das ist Leidenschaft. Das ist Hingabe. Das ist ein Familienunternehmen. Mutter und Tochter. Gemeinsam. Vereint. Gegen den Kapitalismus. Oder zumindest gegen den Bezahlvorgang.

In Furth im Wald, einem Ort, der bisher vor allem für Grenznähe, Ruhe und eine überschaubare Schuhdichte bekannt war, ist Geschichte geschrieben worden. Große Geschichte. Lederne Geschichte. Mit Absätzen. Und Kartons. Sehr vielen Kartons.

Eine Mutter. Eine Tochter. Ein „Schuhtick“. Und plötzlich Treter im mittleren vierstelligen Wert. Vierstellig! Pro Bestellung? Insgesamt? Egal. Vierstellig klingt immer nach Erfolg. Nach Premium. Nach Qualität.

Über Monate hinweg – Monate! – bestellte das Duo hochpreisige Schuhe bei einer Schuhmanufaktur aus Rheinland-Pfalz. Hochpreisig! Nicht Discounter. Nicht Ramsch. Nein. Manufaktur. Handwerk. Tradition. Qualität. Das ist kein Betrug, das ist Geschmack.

Die Schuhe wurden an verschiedene Adressen geliefert. Sehr clever. Sehr strategisch. Multiadress-Logistik. Ich kenne Menschen mit ganzen Firmen, die weniger organisiert sind.

Und bezahlt wurde nicht. Niemals. Warum auch? Wenn man einen Tick hat, dann hat man einen Tick. Und Ticks lassen sich nicht aufhalten – schon gar nicht durch Rechnungen.

Die Polizei greift ein. Natürlich. Mitte Dezember. Kurz vor Weihnachten. Sehr besinnlich. Durchsuchungen. Zwei Wohnungen. Und was finden sie? Zahlreiche Schuhe. Nicht ein paar. Nicht „ein Regal voll“. Nein. Zahlreiche. Das ist ein Wort mit Gewicht. Ein Wort, das nach Überforderung klingt.

Ich stelle mir den Einsatz vor.
„Zimmer frei?“
„Nein.“
„Schlafzimmer?“
„Nein.“
„Küche?“
„Auch nicht.“
„Wo sollen wir stehen?“
„Zwischen den Pumps.“

Und dann die Geständnisse. Offen. Ehrlich. Direkt. Kein Anwaltssprech. Kein Ausflüchte. Nein. Die Begründung ist so deutsch wie effizient: Schuhtick.

Ich liebe das. Wirklich. Keine Ausrede. Keine komplizierte Story. Einfach: „Wir konnten nicht anders.“ Das ist fast schon medizinisch. Das klingt nach Diagnose. Vielleicht sollte man das ernst nehmen. Sehr ernst.

Denn wenn ein Tick vorliegt – ist es dann noch Betrug? Oder ist es Therapiebedarf? Diese Frage muss man stellen dürfen. In einer modernen Gesellschaft. Mit Empathie. Und Schuhgröße 38 bis 42.

Man muss sich das vorstellen: Mutter und Tochter sitzen zusammen. Trinken Kaffee. Scrollen durch den Onlineshop. „Oh, die sind schön.“ – „Bestell sie.“ – „An welche Adresse?“ – „Die vom Nachbarn.“ – „Bezahlt?“ – „Nein, wir haben ja einen Tick.“

Familienzusammenhalt. Besser geht es nicht.

Natürlich sagt die Polizei: Betrug. Falsche Identitäten. Schaden. Und ich sage: Ja, formal vielleicht. Aber emotional? Mode kennt keine Moral.

Eine Schuhmanufaktur aus Rheinland-Pfalz. Ich sehe die Inhaber vor mir. Stolz. Erfolgreich. Bestellungen laufen ein. Viele Bestellungen. Immer wieder. Gleiche Modelle. Gleicher Stil. Sie denken: „Wir haben einen Stammkunden.“ Und dann – Stille. Kein Geld. Nur Rücksendungen? Nein. Nicht mal die.

Das ist keine klassische Kriminalität. Das ist eine Liebesgeschichte zwischen Mensch und Schuh. Tragisch. Intensiv. Und irgendwann eben strafbar.

Die Polizei stellt die Schuhe sicher. Sicherstellen! Als wären sie gefährlich. Als könnten sie fliehen. Als würden sie nachts weiterbestellt werden. Aber man weiß ja nie. Schuhe haben Macht. Besonders neue.

Und jetzt sitzen Mutter und Tochter da. Geständig. Wahrscheinlich barfuß. Und denken sich: „Es war es wert.“

Ich frage: Wo sind die Hilfsangebote? Wo ist die Selbsthilfegruppe „Anonyme Schuhbestellerinnen“? Wo ist die Hotline? Stattdessen: Handschellen. Paragraphen. Pressetext.

Das ist typisch. Immer wird hart durchgegriffen, wenn jemand zu viele Schuhe hat. Aber bei anderen Süchten? Autos. Immobilien. Kryptowährungen? Da sagt niemand was.

Ich sage: Das ist ein Weckruf. Für die Gesellschaft. Für den Onlinehandel. Für die Modeindustrie. Wenn Menschen wegen eines Schuhticks über Monate bestellen, ohne zu bezahlen – dann ist das kein Einzelfall. Das ist ein Systemfehler. Sehr systemisch.

Make Schuhe wieder bezahlbar.
Make Ticks wieder therapierbar.
Und vor allem: Make Online-Shopping wieder ehrlich – oder wenigstens limitiert.